Deutsche sagen 7.300 Mal im Jahr „Sorry“ – was das mit deiner Psyche macht

Warum ständiges „Sorry sagen“ mehr über dein Selbstwertgefühl verrät, als du denkst

„Entschuldigung, könnte ich kurz vorbei?“ – „Sorry, dass ich nachfrage, aber…“ – „Tut mir leid, falls ich störe…“ Klingt das bekannt? Studien zeigen, dass viele Menschen sich häufig entschuldigen, auch wenn es gar nicht nötig wäre. Was auf den ersten Blick wie Höflichkeit erscheint, könnte ein tieferes psychologisches Muster offenbaren, das viel über Selbstwert und soziale Kompetenzen aussagt.

Psychologische Forschung legt nahe: Übermäßiges Entschuldigen ist nicht einfach nur eine gute Angewohnheit – es kann tief mit unserem Selbstbild verbunden sein. Schauen wir genauer hin.

Das Entschuldigungs-Paradox: Wenn Höflichkeit zur Falle wird

Eine angemessene Entschuldigung zeugt von Empathie und sozialer Intelligenz. Doch wenn Entschuldigungen zur Gewohnheit werden – und zwar in Momenten, in denen objektiv kein Fehlverhalten vorliegt –, kann das auf eine innere Unsicherheit hindeuten. In der Psychologie spricht man von „apologetic behavior“ oder „übermäßiger Selbstabwertung“.

Menschen mit niedrigem Selbstwertgefühl oder ausgeprägter sozialer Ängstlichkeit neigen dazu, solche Entschuldigungen häufiger und reflexhaft auszusprechen. Wie häufig das tatsächlich geschieht, ist individuell verschieden – aber die Tendenz ist wissenschaftlich belegbar.

Die Psychologie hinter dem „Sorry-Syndrom“

Warum neigen manche Menschen dazu, sich ständig zu entschuldigen? Die Forschung nennt mehrere Faktoren, die dieses Verhalten begünstigen können:

  • Geringes Selbstwertgefühl: Wer sich selbst als weniger „wertvoll“ empfindet, entschuldigt sich häufiger – auch ohne objektiven Anlass.
  • Perfektionismus: Der Drang, alles fehlerfrei zu machen, führt dazu, dass kleinste Abweichungen bereits als „entschuldigungswürdig“ empfunden werden.
  • Soziale Ängstlichkeit: Die Furcht vor negativer Bewertung begünstigt präventive Entschuldigungen.
  • Konfliktvermeidung: Entschuldigungen dienen als Schutzmechanismus gegen mögliche Auseinandersetzungen.

Wie übermäßiges Entschuldigen dein Selbstbewusstsein untergräbt

Ständige, unnötige Entschuldigungen senden deinem Unterbewusstsein die Botschaft, dass du schuldig bist – auch wenn du es nicht bist. Dieses Verhaltensmuster kann ein negatives Selbstbild langfristig festigen und dein Selbstwertgefühl schwächen.

Psychotherapeutin Beverly Engel beschreibt es so: „Jedes Mal, wenn wir uns für etwas entschuldigen, wofür wir nicht verantwortlich sind, senden wir unserem Unterbewusstsein die Botschaft, dass wir schuldig sind – auch wenn wir es nicht sind.“ Mit der Zeit wirkt dieses Verhalten wie eine innere Programmierung – die wiederum das Selbstbild weiter schwächt.

Das Gehirn lernt mit: Neuroplastizität und Routineverhalten

Wiederholung prägt das Gehirn – das ist der Kern der Neuroplastizität. Wer sich ständig entschuldigt, festigt neuronale Verknüpfungen, die mit Schuld, Selbstzweifeln und Unterordnung verknüpft sind. Bildgebende Verfahren haben gezeigt, dass die Amygdala – ein Hirnareal, das bei Angst- und Stressreaktionen beteiligt ist – bei Menschen mit sozialer Angst verstärkt aktiv ist. Dies deutet darauf hin, dass häufiges Entschuldigen Teil eines tiefer liegenden stressbasierten Verhaltensmusters sein kann.

Der Gender-Faktor: Entschuldigen sich Frauen wirklich öfter?

Es ist ein weit verbreiteter Mythos, dass Frauen sich häufiger entschuldigen. Studien zeigen: Es ist eher der Maßstab der Situationen, die als „entschuldigungswürdig“ wahrgenommen werden. Frauen haben eine niedrigere innere Schwelle dafür. Das bedeutet jedoch nicht automatisch, dass sie weniger selbstbewusst sind. Für Männer kann ein ähnliches Entschuldigungsmuster kulturell weniger akzeptiert werden, was zusätzlichen Druck erzeugen kann.

Kulturvergleich: Wo Deutschland steht

Entschuldigungen und ihr Stellenwert variieren kulturell. In Deutschland ist Rücksichtnahme in der Kommunikation ein hohes Gut. Viele entschuldigen sich vorsorglich, besonders in potenziell konfrontativen Situationen. Ob wir uns häufiger als in anderen Ländern entschuldigen, lässt sich nicht sicher sagen. Fest steht jedoch, dass unsere kulturellen Kommunikationsmuster „präventives Höflichkeitsverhalten“ begünstigen.

Die versteckten Kosten des ständigen Entschuldigens

Dieses vermeintlich harmlose Verhalten kann langfristige Auswirkungen haben – sowohl im beruflichen als auch im privaten Bereich.

1. Karriere: Ein Imageproblem

Häufiges Entschuldigen kann im Arbeitsleben dazu führen, dass Personen als weniger kompetent wahrgenommen werden. Das kann sich in der Wahrnehmung von Vorgesetzten und Kollegen festsetzen.

2. Beziehungen: Unsicherheit statt Nähe

In Beziehungen kann übermäßiges Entschuldigen Unsicherheit und eine devot wirkende Haltung signalisieren. Freundschaften und Partnerschaften leben von Gleichwertigkeit und klarer Kommunikation – nicht von ständiger Selbstabwertung.

3. Psychische Gesundheit: Die innere Stimme der Selbstkritik

Menschen, die sich ständig entschuldigen, setzen sich selbst unter Druck, allem gerecht zu werden. Das steht in Zusammenhang mit erhöhter Anspannung, Angst und sogar depressiven Tendenzen. Psychologin Susan David spricht hier von „emotionaler Selbstsabotage“.

Strategien gegen unnötige Entschuldigungen

Zum Glück lassen sich Verhaltensmuster ändern. Hier sind vier wissenschaftlich fundierte Methoden, um aus dem Entschuldigungskreislauf auszusteigen:

1. Die 24-Stunden-Challenge

Schreibe dir für einen Tag jede Situation auf, in der du dich entschuldigst. Bewerte danach, ob die Entschuldigung wirklich notwendig war. Schon die einfache Beobachtung schafft oft ein erstes Aha-Erlebnis.

2. Neue Formulierungen finden

Ersetze überflüssige Entschuldigungen durch neutrale oder positive Aussagen:

  • Statt „Sorry, dass ich frage“ → „Ich habe eine Frage“
  • Statt „Entschuldigung, kann ich durch?“ → „Darf ich kurz vorbei?“
  • Statt „Sorry für die Verspätung“ → „Danke fürs Warten“

3. Die 5-Sekunden-Regel

Zähle innerlich bis fünf, bevor du dich entschuldigst. Frage dich: Habe ich wirklich etwas falsch gemacht? Wenn nicht, lass die Entschuldigung weg und nimm stattdessen deine Position ein.

4. Dein Selbstwert-Update

Stärke dein Selbstwertgefühl aktiv: Gefühle und Verhaltensweisen beeinflussen sich gegenseitig. Positive Selbstgespräche, das Feiern kleiner Erfolge oder tägliche Affirmationen helfen, aus der Entschuldigungsspirale auszusteigen.

Wann eine Entschuldigung wirklich angebracht ist

Natürlich gibt es Situationen, in denen eine Entschuldigung wichtig ist. Der Psychiater Dr. Aaron Lazare nennt vier Kriterien für eine aufrichtige Entschuldigung:

  • Du hast einen Fehler gemacht
  • Dein Verhalten hat jemandem geschadet
  • Du übernimmst Verantwortung
  • Du willst die Beziehung ehrlich reparieren

Hin zu klarer, authentischer Kommunikation

Es geht nicht darum, nie mehr „Sorry“ zu sagen, sondern darum, bewusster mit dem eigenen Sprachverhalten umzugehen. Menschen mit gesundem Selbstwertgefühl entschuldigen sich dann, wenn es Sinn ergibt – nicht aus Angst oder Unsicherheit.

Die Forscherin Brené Brown bringt es auf den Punkt: „Wahre Stärke zeigt sich nicht darin, sich nie zu entschuldigen, sondern darin, zu wissen, wann eine Entschuldigung notwendig ist – und wann nicht.“

Langfristig weniger „Sorry“ – mehr Selbstvertrauen

Viele Menschen berichten, dass sich ihr Selbstwertgefühl deutlich verbessert hat, nachdem sie gelernt haben, unnötige Entschuldigungen zu vermeiden. Sie fühlen sich sicherer, werden ernster genommen und können klarer kommunizieren – ohne ständig zu erklären oder zu rechtfertigen.

Fazit: Du bist genug – ganz ohne „Sorry“

Ständiges Entschuldigen ist kein unwichtiger Nebenaspekt deiner Kommunikation, sondern ein Spiegel deines Selbstbilds. Dieses darf sich ändern – Schritt für Schritt, mit Bewusstsein und Übung.

Du verdienst es, Raum einzunehmen, Fragen zu stellen, deine Meinung zu sagen – ohne dich dafür zu entschuldigen. Nicht aus Egoismus, sondern aus Würde.

Überlege beim nächsten „Sorry“, ob es wirklich nötig ist. Und wenn nicht, sag lieber gar nichts. Besser noch: Sag dir selbstbewusst – Ich bin genug. Punkt.

Wie oft ertappst du dich beim unnötigen Sorry sagen?
Täglich mehrmals
Ein paar Mal pro Woche
Nur in heiklen Momenten
So gut wie nie

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